Feuchtgebiete goes Champs-Élysées

Anfang März kam in Frankreich ein deutsches Buch auf den Markt, um das es hier zulande viel Wirbel und jede Menge Debatten gegeben hat. Der französische Verlag rechnet mit kommerziellem Erfolg - und ebenfalls mit endlosen Debatten. "Zones humides" heißen Charlotte Roches "Feuchtgebiete" in Frankreich.

Ich selbst habe das Buch zugegebenermaßen nie gelesen, was allerdings nicht heißen soll, dass ich mich nicht wenigstens ansatzweise damit beschäftigt hätte. Ich habe es in einem Buchladen in die Hand genommen, wahllos eine Seite aufgeschlagen und ein paar Zeilen gelesen. Und entsetzt wieder zugeschlagen, um es schleunigst ins Regal zurückzustellen. Ich sah die unzähligen Urteile bestätigt, die mir bis dahin zu Ohren gekommen waren: Eklig.

Charlotte Roche selbst erklärte in einem Interview einmal, wie sie mit eben diesem Urteil zu ihrem Buch umgeht. Wenn Menschen ihr sagen, sie fänden das Buch eklig, fragt sie nach, welche Stelle denn zum Beispiel. Und jede Stelle, die ihr genannt würde, fände sie lustig. Genau da sei der Knackpunkt: Passagen, die andere Menschen eklig finden, fände sie eben lustig; das sei ihre Art von Humor.

Auch wenn es mir rätselhaft erscheint, wie man das tagelange Aufbewahren gewisser Körpersekrete unter den Fingernägeln und das darauffolgende Abknabbern derselben lustig finden kann; oder auch die Vorstellung, mit der "Muschi" komplett über Klobrillen zu wischen, bevor man sein Geschäft macht (besonders gern an Raststätten). Trotzdem sehe ich ein, was Charlotte Roche erreichen wollte: Tabus brechen, um aufzuzeigen, wo diese in der Gesellschaft liegen. Der französische SchriftstellerFrédéric Beigbeder, der weit über die Grenzen seiner Heimat durch seine konsumkritischen Werke bekannt wurde, brachte es im Gespräch über diese heikle Neuerscheinung ganz gut auf den Punkt: In einer Gesellschaft, die dermaßen viel Wert auf Äußerlichkeiten und eine glatte, schöne Oberfläche legt, deren Werbung überhaupt nur sehr festgefahrene Idealbilder zeigt, ist es wichtig, genau darauf hinzuweisen. Am wirksamsten sei dies, indem man die Tabus breche, die durch diese idealisierten Werbebilder entworfen werden. Dieser Tabubruch sei der gemeinsame Punkt bei Charlotte und ihm, denn er versuche genau das gleiche.

Anlässlich der Veröffentlichung der Feuchtgebiete in Frankreich meldeten sich viele Menschen zu Wort: deutsche und französische Leser der Zielgruppe, die Regisseurin und die Schauspieler, die das Buch in Halle auf die Theaterbühnen brachten, sowie auch Literaturkritiker und Soziologen. Vor allen diesen Menschen ziehe ich den Hut dafür, dass sie sich durch dieses Buch gebissen haben. Für keinen war die Lektüre einfach, die meisten fühlten sich immer wieder abgestoßen und durch pikante Szenen im Lesefluss gestört, was immer wieder verhinderte, dass sie das Buch genießen konnten.

Ausgerechnet die Kritikerin der FAZ scheint die "Feuchtgebiete" für ein grandioses Œvre zu halten, dessen Gestaltung vor dem sterilen Hintergrund einer Krankenhauskulisse genial sei; der Verleger, der die Veröffentlichung in Deutschland verbrochen hat, rechnete mit einem Underground-Buch, das vielleicht kommerziellen Erfolg versprach (allerdings überraschte es den etwa Mitte Vierzigjährigen vollkommen, dass sogar seine eigene Mutter in ihrem Freundeskreis nach der Veröffentlichung über dieses Buch diskutierte); andere deutsche Lektoren fanden nach Abzug der Ekelszenen erstaunlich wenig an dem Buch, französische Verleger sehen in dem Buch nach Abzug der Ekelszenen eine hochaktuelle Familiengeschichte. Ja, neben den Worten "Muschi" und verschiedenen verbalen Ausführungen von Körpersekreten taucht auch das Wort "Scheidung" auf. Eine Familiengeschichte also, mit einer Hauptperson, die beängstigender Weise als beispielhafte deutsche Jugendliche gesehen zu werden droht.

Ich bin gespannt, welche Diskussionen dieses Buch in Frankreich lostreten wird. Welches Bild man in Frankreich von der typischen Deutschen im Teenie-Alter bekommen wird, wo man von den Nachbarn doch sonst nur Bücher und Filme gewohnt ist, die sich mit der historischen Vergangenheit auseinandersetzen (à la Der Vorleser, Goodbye Lenin oder Das Leben der Anderen). Und ich wünschte, Charlotte Roche hätte diese durchaus wichtigen Hinweise auf Tabuthemen und manchmal schräge Idealbilder ein bisschen weniger abstoßend und niveaulos gestaltet.







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