Unmöglichkeiten
Völkerwanderung nach Norden
So viele Menschen sind wieder auf der Reise. Schon am Bahnhof ziehen Gesichtergespenster um Gesichtergespenster an einem vorbei, bleiben stehen, stehen im Weg. Im Weg stehen auch Menschen im Gang des Waggons, der zum Großraumabteil führt. Haben Gepäck, Tüten und einen riesigen Körper dabei und pöbeln noch entrüstet, dass am Bahnhof noch so viele Menschen einsteigen ("Man könnt ja auch mal nen Moment warten, oder ist das zu viel verlangt!").
Ich sitze schon eine viertel Stunde, der Zug rollt schon zehn Minuten (wir sind trotzdem gerade erst kurz vor Fürth) aber der Strom der wandernden Menschen nimmt nicht ab. In diese Richtung und in jene Richtung, bis in der Mitte gar nichts mehr geht. Ich komme nicht umhin, amüsiert zu sein. Junge Leute mit Einfamilienrucksackvillen auf dem Rücken, Omas, die sich voller Begeisterung an den Nachwuchs der gestressten Mutter wenden und sich Nintendo erklären lassen ("Das geht aber ganz schön schnell..."), emporkömmliche Wichtigtuer mit Riesenlaptops, geschniegelte Geschäftsmänner und legere Geschäftsmänner - und so einer bist du wohl. Auch du stehst im Gang, fast neben mir, und reckst den Hals, um zur Mitte zu sehen, wo gar nichts mehr geht. Dein Kollege dreht sich zu dir um, sagt etwas, grinst hämisch und wird mit einem müden Lächeln deinerseits belohnt, als er sich schon wieder umgedreht hat. Dein ernstes Profil ist interessant, aber ich kann dich nicht richtig einordnen. Dein Kollege trägt ein faltenfreies, weißes Hemd und hat einen Aktenkoffer. Du trägst ein ungebügeltes schwarzes Hemd über einem schwarzen T-Shirt und eine dunkelblaue Jeans.
Der Bahnhof von Fürth ist hässlich.
Zu dir und deinem Kollegen haben sich weitere Leute gesellt, ein Mann und eine Frau. Sie sitzt mit dem anderen Hemdträger auf dem Doppelsitz vor dir und ist schick gekleidet, sieht aus wie frisch aus dem Büro. Nicht völlig unattraktiv, aber völlig uninteressant. Was sagt dein Blick dazu?
Der Kontrolleur kommt, kontrolliert und geht.
Deine blonden Haare und deine helle Haut lassen dich kühl wirken. Die Kollegen lachen und scherzen über die Rückenlehnen hinweg, aber dein ernster Blick drängt an die Grenze zu „einschüchternd“. Ich mache es mir in meiner Ecke bequem und beglückwünsche mich selbst zu diesem Platz, der den Blick durch drei Rückenlehnenritzen und über einen Tisch hinweg auf die andere Seite der Sitzreihen direkt auf dich freigibt.
Dein Blick trifft meinen und bleibt an ihm hängen. Eine Spur zu lange, um lediglich weitschweifig zu sein. Ich erwidere dein Nichtlächeln und mein Kopf wendet schließlich den Blick ab. Nur zehn Sekunden später bade ich wieder in deinem Anblick. Du siehst nordisch aus. Zu allem Überfluss ziehen Regentropfen ihre horizontalen Bahnen an den Fenstern und es riecht nach Regen. In meiner Phantasie riechst du nach Regen.
Ich kann nicht das Buch aus dem Rucksack holen. Der MP3-Player und dein Gesicht sind meine Reisegesellschaft.
Dein Blick streift mich wieder, bleibt wieder eine Weile. Ich strenge mich an, nicht wegzusehen. "She screams my name, yeah, she makes me rise with the look in her eyes", singt die Stimme in den Kopfhörern und ich muss schmunzeln. Das Lächeln wird weggewischt von der Bewegung, die in die Runde deiner Begleiter kommt. Der Rock der Frau ist orange und sieht furchtbar aus, als sie aufsteht und den zweiten Hemdträger raus lässt. Er geht nicht an mir vorbei, sondern zu den Toiletten in die andere Richtung. Du siehst gerade aus dem Fenster, während sie auf dich einredet. Dein Kollege antwortet ihr, du sagst nichts. Ich mag deine Ernsthaftigkeit, dein sparsames Nicken. Zufrieden lasse ich mich ein wenig zusammensinken und schließe die Augen. Dein Bild verschwindet nicht in meinem Halbschlaf und ich spüre das Lächeln auf meinen Lippen.
Eine halbe Stunde später geht mein erster wacher Blick zu dir. Und du bist weg. Eine lächerliche Anwandlung von Panik überkommt mich, ich richte mich etwas auf und sehe verstohlen in den Teil des Abteils, der hinter mir liegt. Wir sind kurz vor einem Bahnhof, in dem wir Halt machen. Ein Blick zurück zu deinem Platz, der noch immer leer ist. Aber zwei deiner Begleiter sind noch da. Wenige, lange Minuten später kommst du mit einem der Hemdträger zurück, du hast Flaschen in der Hand und lässt dich nieder. Diesmal am Gang und ich passe meine Kopfhaltung an. Zum ersten Mal sehe ich, wie du die Mundwinkel langsam hochziehst und ich trauere schon um deine Ernsthaftigkeit, da hast du dein Lächeln voll entfaltet. Das Weiß deiner Zähne ist wie ein Echo deiner hellgrünen oder -blauen Augen, deine Grübchen verschwinden fast in dem kurzen Bart, der mir verrät, dass du die richtige Musik hörst.
Ich frage mich, wie alt du wohl bist und ich kann es schwer einschätzen. Neben deinen Hemdträgerkollegen siehst du jung aus, neben dem orangefarbenen Rock wirkst du beruhigend reif. Du bist im einen Moment 25, im nächsten zehn Jahre älter. Du bist perfekt. Und dein Blick kehrt wieder zu mir zurück. Zu schnell siehst du wieder weg und ich weiß, dass du weißt, dass ich dich beobachte. Ich muss lächeln und frage mich, ob dein Ego das wohlwollend zur Kenntnis nimmt oder dein Es jetzt eine Paranoia entwickelt. Und wo ich schon bei Fragen bin, frage ich mich, warum der Zug so voll ist und ob etwas anders laufen würde, wenn der Platz neben mir nicht besetzt wäre, wenn du allein unterwegs wärst.
Halbzeit. Jena liegt hinter uns. Deine Nähe - oder besser Ferne - beginnt mich zu beunruhigen. Ich spüre, dass ich dich nicht mehr beobachte, um deine gelegentlichen Blicke aufzufangen, sondern ich beobachte dich, weil es nicht anders geht. Wie von selbst wandern meine Augen zu dir. Nicht in deine Richtung zu schauen wird zur Aufgabe, die Konzentration verlangt.
Es wäre so einfach mit dir zu reden. Ein Wort reihte sich ans andere, ein Satz folgte auf den anderen. Ich fände heraus, woher du kommst und ob du nur kurz in Nürnberg warst. Ob du wirklich geschäftlich unterwegs bist. Ob wir zusammen einen überteuerten Kaffee im Bordrestaurant trinken gehen.
Du hast schmale Lippen in deinem Bart. Vielleicht sind sie es, die dich so ernst wirken lassen, wenn du nicht gerade von einem zum anderen Ohr lächelst und dabei aussiehst wie ein kleiner Junge. Dein Profil gibt mir die Sicherheit, dass dein Blick mich nicht trifft, bevor ich woanders hinsehen kann. Dein Profil brennt sich in meiner Phantasie ein, die es im nächtlichen Halbdunkel neben mir in meinem Bett liegen sieht.
Die Zeit rast. Deine Kollegen haben neues Bier besorgt, so bald steigst du also nicht aus. Da du wohl kaum nach Halle oder Bitterfeld willst, wirst du wohl bis Berlin fahren. Ich weiß, dass ich am Ende der fast fünfstündigen Fahrt fast nichts anderes getan haben werde als dich anzusehen. Mit diesem Gedanken denke ich zum ersten Mal an meinen Zielbahnhof. Ich weiß, dass du sehr wahrscheinlich bis zum Hauptbahnhof weiterfahren wirst und überlege, ob ich nicht auch einfach weiterfahren soll, um dich ein paar Minuten länger im Blick zu haben. Um zu sehen, wohin dein Weg dich führt…
Es riecht noch immer nach Regen, es riecht noch immer nach dir. Irgendwas stimmt nicht. Ich fühle mich ungut und ziehe die Kopfhörer aus den Ohren. Vielleicht kann ich über die fünf Meter, die zwischen dir und mir liegen, wenigstens deinen Namen aufschnappen, überlege ich, wenn ich schon sonst nichts von dir weiß. Nach eineinhalb weiteren Stunden werde ich nicht schlauer sein, was dich betrifft. Ich werde aus einem Telefonat des orangefarbenen Rocks wissen, dass eine Alexia gerade Tische und Stühle aufgebaut hat, dass irgendein Catering irgendwas... Dein Name bleibt ein Geheimnis.
Nach eineinhalb Stunden warte ich auf die Durchsage, die mich veranlassen wird, meine Jacke anzuziehen. Und ich wünschte, sie käme nicht. Ich erinnere mich an den Beginn der Zugfahrt, vor fast fünf Stunden, als ich anfing, in deinem Anblick zu baden. Dass es sich nun ein bisschen anfühlt, als bekäme ich keine Luft mehr, als würde ich ertrinken – ich spüre fast, wie meine Lungen sich mit Wasser füllen und stechen – ist schmerzhaft. Nachdem ich meinen Koffer aus der Gepäckablage geholt und neben mich gestellt habe, wende ich meine Augen ein letztes Mal zu dir. Ich ziehe dein Gesicht in mich hinein, präge es mir ein und schließe es ein. Du wirst weiterfahren. Ein letzter Blick auf deine blonden Haare, die seit Stunden mustergültig hinter deinen Ohren klemmen, dann drehe ich mich um und gehe zum Ausgang. Ich weiß, ich könnte dich sehen, wenn ich mich umdrehte.
Der Zug hält, ich steige aus, tauche in das Berliner Meer mir fremder Menschen. Alles vertraut, der Bahnsteig, die Treppen zur S-Bahn. Alles noch da, aber alles auch ein wenig verschwommen. Nichts ist so klar, wie dein Gesicht in meinen Gedanken.